“Das Muster der Beziehung zwischen Kunde und Produkt wird als Archetyp für jede Beziehung gesehen – auch für die zwischen Menschen. Dabei gelten zwei Annahmen. Erstens: Ein Konsumprodukt soll Zufriedenheit verschaffen. Zweitens: Es gibt keinen Grund, einem Produkt gegenüber loyal zu sein, wenn es seinen Zweck nicht mehr erfüllt und vielversprechendere Alternativen vorhanden sind. Da alle oder zumindest fast alle Mitglieder in unserer Gesellschaft von Konsumenten dieses Muster akzeptieren, ist es kein Wunder, dass wir auch selbst von den anderen gemäß diesem Muster behandelt werden.” – Zygmunt Bauman, 2011, Süddeutsche Zeitung
Wart ihr schon einmal in einem Ramschladen der Liebe unterwegs? Es gibt genügend davon. Sie haben Namen wie Tinder, Lovoo und Lesarion und alle bieten reichhaltige Grabbeltische, an denen jeder seine potenziellen Partner hervorziehen kann wie Kleidungsstücke…
Leute lassen ihre prüfenden Blicke über die Klamotten gleiten, analysieren, ob sie wohl passen würden, teilweise probieren sie sie gar an. Zu klein, zu groß, zu schrill, zu grau? Weg damit, zurück auf den Grabbeltisch und zurück ins Gewühl der von irgendwem einst irgendwie abgelegten Liebschaften. Wer weiß, vielleicht ist noch etwas passendes dabei? Generation Beziehungsunfähig beim Liebesshopping.
Auch ich betrete den Laden, mische mich unter die Suchenden. Eigentlich will ich mich nur mal umschauen, gar nicht unbedingt etwas mitnehmen… Ganz entspannt, man kann ja nichts erzwingen und wenn nichts passt, dann muss man eben später mal wieder vorbeikommen. Kaum stehe ich am Grabbeltisch, werde ich überwältigt von der Fülle der Möglichkeiten. Ich sehe hübsche Kleider und weniger hübsche, sehe Blusen und Hemden und Röcke in allen erdenklichen Farben. Manche leuchten bunt und andere sind völlig blass, manche nehme ich kaum wahr, obwohl sie einen zweiten Blick verdient hätten. Manche Kleidungsstücke sehe ich mir länger an, drehe sie in meinen Händen, lasse den Stoff durch meine Finger gleiten und frage mich, wie er sich wohl auf meiner Haut anfühlen würde. Passt der Schnitt zu mir? Macht mich dieses Kleid nicht zu fett? Würde es labberig an mir herumflattern und meinen Körper in sich verschwinden lassen wie in einem unförmigen Sack? Man kann sich viele Gedanken machen dort am Grabbeltisch der Partnerwahl.
Schließlich bleibt mein Blick an einer Bluse hängen. Sie schimmert und sticht heraus zwischen all den anderen Kleidern wie eine Sternschnuppe am nächtlichen Firmament. Zögernd und doch instinktiv greife ich danach und ziehe sie hervor. Nicht nur, dass sie schön aussieht – sie riecht auch noch gut. Ein Lächeln formt sich auf meinen Lippen, meine Wangen röten sich, mein Herz schlägt plötzlich schneller. Ich sehe diese Bluse an und ich weiß: Mit ihr wird jeder milde Abend zu einer kubanischen Strandparty und jeder graue Wintertag zu einem alpinen Bergfest mit knisterndem Kaminfeuer. Mit ihr kann ich neue Wege erschließen und alte neu entdecken, sie passt zu jedem Anlass und jeder Gelegenheit – und meine Familie und Freunde werden mich loben und bewundern angesichts meines guten Geschmacks. Wir passen perfekt zueinander. Ich nehme die Bluse mit nach Hause.
Euphorisiert unterrichte ich noch unterwegs all meine besten Freunde darüber, dass ich einen ganz außergewöhnlichen Schnapper gemacht habe. Zu Hause posiere ich mit meiner Errungenschaft vor dem Spiegel und erfreue mich ihrer bloßen Anwesenheit, ich bewundere sie von oben bis unten, wähne mich ein unfassbarer Glückspilz zu sein… und dann sehe ich den Riss.
Er wirkt zunächst ganz klein, wie er sich da von der Naht unterhalb des Ärmels bis über die Brust zieht, doch ich erschrecke bis ins Mark. Ein Riss in meiner so wunderschön gedachten neuen Bluse! Vorsichtig sehe ich ihn mir genauer an. Kann ich ihn vielleicht flicken?
Meine Freunde sagen mir: Bring die Bluse zurück. Du hast dir ein gebrauchtes Teil andrehen lassen. Siehst du nicht, dass das mit euch nichts werden kann? Sie ist total kaputt! Ich höre das alles, ich verstehe es auch – aber derweil suche ich schon Nadel und Faden zusammen. Es gibt noch so viele andere schöne Blusen! Tausch sie um! Doch ich setze meine Nadel an. Andere Leute würden diese Bluse in einen Müllbeutel schmeißen und wahrscheinlich hätten sie auch Recht damit – aber ich beginne zu nähen. Natürlich steche ich mich. Vielleicht setze ich meine Stiche nicht gut genug, vielleicht bin ich einfach nicht geschickt im Flicken – aber ich will es so sehr. Ich will diese Bluse. Ich will mit ihr wahr machen, was ich mir erträumt hatte!
Natürlich könnte ich sie zurückgeben. Natürlich könnte ich meine Hände wieder in den Klamotten auf dem Grabbeltisch der Liebe vergraben und weitersuchen, weiter antesten, noch genauer hinschauen und nach der perfekten Bluse ohne jeglichen Makel gucken. Viele Leute machen das so. Die Ramschläden der Liebe sind voll mit Kunden. Aber ich denke mir – jedes Outfit kann dreckig werden. Jedes Hemd kann ausbleichen und jede Hose platzen. Liegt es nicht immer an einem selbst, wie man damit umgeht?
Die Bluse liegt noch auf meinem Schoß. Mein Finger blutet. Ich konnte den Riss zum Teil nähen, an manchen Stellen allerdings bleibt der Stoff faserig und es besteht die Möglichkeit, dass er dort wieder einreißen wird. Ich kann entscheiden, ob sie mir dieses Risiko wert ist – oder nicht? Mein Blick schweift durch den Raum, bleibt kurz an der Tür hängen, die so verlockend einlädt, der Situation zu entfliehen. Doch dann sehe ich meinen Nähkasten. Und all die Fäden und Nadeln, die ich noch nicht ausprobiert habe.
Vielleicht ist es töricht. In jedem Fall ist es mutig. Vielleicht entpuppt sie sich noch als der absolute Fehleinkauf und ich bezahle am Ende mit gebrochenem Herzen. In jedem Fall ist es eine Chance. Ich weiß nur, dass sie sich gut anfühlt und ich sie tragen will. Jetzt. Letztendlich ist es doch so: Entweder wird sie als ein weiteres Produkt meines Konsumverhaltens in meine Geschichte und schließlich die Altkleidersammlung eingehen. Oder aber es wird Liebe.
Und so ziehe ich die Bluse an. Ich schließe die Augen und genieße einfach die Wärme, die sie mir in diesem Moment gibt.
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