Das innere Coming-out
Bevor irgendwer sich zu einem Coming-out entschließt, muss dem erst einmal eine gewisse Selbsterkenntnis vorausgehen. Den Weg hin zu der Gewissheit “Ich bin homosexuell” – oder was auch immer – nennt man Coming-in oder inneres Coming-out. Er kann stressig sein und zäh zugleich.
Du läufst deinen Lebensweg entlang, der dir so klar vorgezeichnet erscheint, und spürst doch die ganze Zeit, dass etwas drückt. Etwas stimmt nicht, etwas tickt beständig, während du einen Schritt nach dem anderen tust – aber den Konsequenzen möchtest du dich lieber nicht stellen. Es könnte eine Bombe sein. Sie könnte alles zerfetzen. Gut, dass du das stetige Tick-Tack immer mal wieder ignorieren kannst, wenn du dich bloß darauf konzentrierst, einfach den Bildern und Erwartungen zu folgen, die die Gesellschaft dir jeden Tag mitgibt. Nur was, wenn die Bombe nie aufhört zu ticken, bis du sie entschärft hast…? Vielleicht ist das innere Coming-out der krasseste Prozess der ganzen Coming-out Geschichte.
Bilder vom “normalen” Leben…
Täglich werden wir mit Bildern eines “normalen” Lebens konfrontiert, an denen wir uns zwangsläufig orientieren. Ich bekomme regelmäßig Brechreiz, wenn mir beim Einkaufen das “Überraschungs-Ei für Mädchen” in quietschpinker Farbe begegnet oder, wie neulich, ein Buch mit “100 Geschichten für Mädchen”, ebenfalls in pink und vorne mit Prinzessinnen drauf. Scheinbar setzt die Industrie darauf, bereits Kindern einzutrichtern, was männlich und was weiblich angeblich bedeutet und was das jeweilige Geschlecht gut zu finden hat. Von klein auf werden Jungs und Mädchen bestimmte Rollenbilder vermittelt. Diese offenkundige Unterstützung von Geschlechterklischees ist nur ein Beispiel dafür, wie schwierig es sein kann, sich in der Gesellschaft frei nach seinen Neigungen zu entwickeln. Von anderen Einflüssen, wie dem, was manche Religionen so vertreten, fange ich gar nicht erst an… Es reicht ja bereits, nur ein bisschen TV-Werbung laufen zulassen, um sich von der klebrigsüßen Nutella-Familie ein schlechtes Gewissen machen zu lassen. Wer ist bitte so “perfekt”? Niemand. Und doch haben wir diese Bilder im Kopf und vergleichen uns damit.
Ich vermute mal, die meisten Menschen gehen erst einmal davon aus, so zu sein, wie die Gesellschaft es von ihnen erwartet – oder zumindest, dass sie noch so sein werden. Als kleines Mädchen habe ich auch angenommen, irgendwann in der fernen Zukunft, wenn ich erwachsen und sowieso ganz anders sein würde, einen Mann zu heiraten. Ich habe zwar gern Junge gespielt und wäre in Disneyfilmen lieber der Prinz, als die Prinzessin gewesen – aber das würde sich bestimmt noch entwickeln, denn alle um mich herum und alle Filme, die ich kannte, endeten so: die Frau und der Mann finden sich. Als in der Pubertät dann tatsächlich das Thema auf das andere Geschlecht kam und sich die ersten Pärchen bildeten, fürchtete ich zwar schon, dass meine Empfindungen für Jungs nicht ganz das sein konnten, was ich erwartet hätte – nicht das, was mir all die Bilder vermittelt haben – aber ich versuchte, mich anzupassen. Manchmal glaubte ich auch einen Funken von dem in mir zu erkennen, was meine Freundinnen für Jungs empfanden. “Wow, der Sänger, der ist sowas von geil!” Joa. Kann schon sein. Ich finde ja auch cool, wie der so singt. Also steh ich auch auf den. Natürlich. Dass ich aber Herzrasen bekam, wenn mir ein bestimmtes Mädchen begegnete, habe ich ignoriert. Diese Empfindungen ernst zu nehmen – das hätte doch meine und die ganze Weltanschauung meiner Mitmenschen gesprengt! Bombe!
Man kann sich lange etwas vormachen. Der eine kann das besser, der andere schlechter – aber es geht. Man kann sich auch in feste, heterosexuelle Beziehungen stürzen, in ehrlicher Sympathie und in ehrlicher Hoffnung, dass sich die richtige Liebe schon noch einstellen würde. Vielleicht glaubt man sogar daran, Liebe zu empfinden und den Sex auch soweit ganz gut zu finden – weil man es nicht anders kennt, weil man es nicht anders weiß, weil man es nicht anders will. Was auch immer. Ja, vielleicht will man auch einfach die Nutella-Familie sein – und die besteht eben aus Vater, Mutter, Tochter, Sohn und jedem erdenklichen Klischee. Jedem das Seine! So gibt es viele Möglichkeiten, das eigene Coming-in in die Länge zu ziehen.
Tick-tack-tick-tack…
Derweil tickt irgendwo weiter in deinem Hinterkopf eine Bombe namens Homosexualität und sie kann tatsächlich, wenn sie hochgeht, eine Lebenskrise auslösen. Oder aber du entschärfst sie sanft.
Das geht, wenn man aufhört, sich selbst etwas vormachen zu wollen und anfängt, sich von den alten Bildern zu verabschieden. Man muss lernen, alte Bilder durch neue zu ersetzen. Mir hat es geholfen, mich mit dem Lesbischensein zu beschäftigen – mit Büchern, mit Filmen, mit Internetseiten. Je mehr ich sah, dass es auch andere gibt, die so empfanden wie ich, desto weiter kam ich auf meinem Weg des inneren Coming-outs. Desto ruhiger tickte die Bombe. Und irgendwann konnte ich mich ihrer annehmen und sagen, ja, stimmt – ich bin lesbisch. Plötzlich war sie ruhig und nichts lag in Schutt und Asche. Im Gegenteil: meine Welt begann zu blühen.
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